
Alle Texte dieser Seite erschienen ursprünglich im Almanach 2011
Die Fürstenberger
Schokoladen- und Keksfabrik
von Karl-Heinz Pagel
Denke ich an meine Kindheit zurück, so ist damit unweigerlich der Duft von köstlichem Weihnachtsgebäck und anderen Backwaren verbunden, den die einstige Schokoladen- und Keksfabrik am Peetscher Weg unterhalb des Maibergs, direkt neben der Bahnlinie und dem nahebei gelegenen Wasserwerk verströmte. Schon im Herbst – lange also vor den Weihnachtstagen – roch es dort nach Pfeffernüssen und Pfefferkuchen und anderem Weihnachtsgebäck. Aber auch das ganze Jahr hindurch dufteten frisch gebackene Kekse und die sonstigen unterschiedlichsten Backwaren, die in dieser Fabrik hergestellt und nach Nah und Fern verschickt wurden.
Es gab aber nicht nur Gebackenes. Besonders verführerisch für uns Kinder waren auch die herrlichsten Schokoladenprodukte, die – außer im Sommer – hergestellt wurden, von der Tafelschokolade über Konfekt in allen nur denkbaren süßen Geschmacksrichtungen und Formen; nicht zu vergessen die Schokoladen-Nikoläuse und Osterhasen, die schon weit vor ihrer jahreszeitlichen Bestimmung produziert wurden und in buntes Staniol gekleidet in Riesenmengen Kisten und Kartons auf ihren Versand warteten. Ab und zu steckten die Produktionsarbeiterinnen uns Kindern von den vielen köstlichen Naschereien etwas zu, was uns natürlich hoch erfreute.
Die Schokoladen- und Keksfabrik war in meiner Kindheit sogar mein Zuhause, denn dort arbeitete mein Vater Heinrich Pagel als Schlosser von der Mitte der 20er Jahre bis etwa ins Jahr 1940. Wir, die Familie Pagel, wohnten zunächst seit 1927 bis 1930 im Westflügel des hufeisenförmigen Fabrikgebäudes, danach ab 1937 im Ostflügel. Der Westflügel war vom Fabrikbesitzer extra zum Wohntrakt ausgebaut worden. Dort lebten wir im oberen Stockwerk. Unter uns wohnte die Familie Herrmann.
Während mein Vater als Schlosser für die Instandhaltung der gesamten Fabrik-Maschinenanlagen angestellt war und damit immer in der Nähe der Maschinen sein und oft nach seiner Arbeitszeit Reparaturen und Wartungen durchführen musste, war Herr Herrmann für den Fuhrpark der Fabrik zuständig. Ihm unterstanden in den 20er Jahren die Pferdefuhrwerke der Firma, die Pflege, Versorgung der Pferde und die Wartung der Ställe auf dem Firmengelände, bevor später Anfang der 30er Jahre Lastkraftwagen die Pferdefuhrwerke ersetzten und statt der Ställe in den Hang des Maibergs eine große Garage gebaut wurde. Sämtliche Fuhrwerke brachten die produzierten Waren zum nahe gelegenen Güterbahnhof und zu Verkaufsstellen in der Umgebung. Diese Transporte gehörten ebenfalls zum Aufgabenbereich meines Vaters.

Ich erinnere mich noch genau an die ersten Lkws der Firma: Einer bestand z.B. aus Beutegut vom französischen Militär aus dem Ersten Weltkrieg. Er hatte Vollgummireifen. Mit diesem ist mein Vater oft gefahren, bis dieser Lkw etwa um 1930 verschrottet wurde. Danach kamen die moderneren Fahrzeuge für den Warentransport: so unter anderem ein Zweieinhalb-Tonner Magirus und ein Ein-Tonner Chevrolet.
Erbauer und Besitzer der Schokoladen- und Keksfabrik war Gustav Dietrich, der sich bald nach seinem Zuzug nach Fürstenberg in der Steinförderstraße 37 die sogenannte Dietrichsche Villa erbauen ließ und bis Anfang der 30er Jahre in dem Haus lebte. Nach Gustav Dietrich bekam die Firma den Namen „Gudi“. Die Villa in der Röblinsee-Siedlung, in der die Russen nach der Beschlagnahmung wohl ein Casino betrieben, brannte etwa 1990 ab. Übrig blieb nur noch eine Ruine. Heute steht nach ihrem Abriss dort ein moderner weißer Kastenbau.
Doch bereits am Ende der 20er Jahre musste Dietrich den Konkurs seiner Schokoladen- und Keksfabrik anmelden. Just zu jenem Zeitpunkt kam es gar zu einem Brand des Dachstuhls im westlichen Teil der Fabrik. Dort im oberen Geschoß war damals die Kakaorösterei untergebracht, die möglicherweise den Brand ausgelöst hatte.
Die nächsten Inhaber der Fabrik wurden die Brüder Alfred und Richard Schlenkrich, die die Produktion von Konfekt einstellten, so dass einige Teile der Fabrik ungenutzt blieben. Die neuen Besitzer ließen sich in den 30er Jahren den Westflügel zu eigenen Wohnzwecken ausbauen.
Vom Sommer 1930 bis 1937 zogen wir in Fürstenberg mehrfach um, bis wir im Herbst 1937 wieder auf dem Betriebsgelände, dieses Mal im Ostflügel, in dem eine neue Wohnung erbaut worden war, Quartier erhielten. Im Parterre unter uns lagen Büroräume und über uns zog später nach Beginn des Krieges 1939 die Firma Grahl-Bekleidungsindustrie ein, die einen Teil ihrer Produktion aus Berlin ausgelagert hatte. Von dieser Firma wurde mein Vater circa im Jahr 1941 als Nähmaschinenmechaniker angestellt. Aber schon wenig später – im Jahr 1940 – zogen wir erneut aus dem Fabrikgelände aus in den Peetscher Weg 11.
Nach Kriegsbeginn wurde die Schokoladenproduktion eingestellt und die Hallen vollständig geräumt. In die leer gewordenen Fabrikhallen kamen neue Maschinen für die Metallbearbeitung von Kriegsmaterial, das bis zum Kriegsende hergestellt wurde (siehe dazu auch den Artikel zur Hackelöer-Baracke in dieser Ausgabe). Die Transportfahrzeuge beschlagnahmte das Militär.
Nach Kriegsende produzierte nur noch die Fa. Grahl-Bekleidungsindustrie auf dem Fabrikgelände. Der größte Teil der Produktionsanlagen war verlassen, als die Rote Armee einmarschierte und die angrenzende Röblinsee-Siedlung für ihre militärischen und Wohnzwecke vereinnahmte. 1947 besetzten die Russen dann das Fabrikgelände der ehemaligen Schokoladen- und Keksfabrik, ließen alle vorhandenen Produktionsmaschinen demontieren und vertrieben auch die Fa. Grahl. Sie zog in die Berliner Straße 74 um. Da mein Vater für die Fa. Grahl arbeitete und wir damals im Peetscher Weg in der Röblinsee-Siedlung wohnten, mussten auch wir von dort weg. Genauso erging es allen damaligen Bewohnern der Röblinsee-Siedlung.
Erneute Versuche des Herrn Richard Schlenkrich, nach 1945 die Produktion von Back- und Süßwaren in anderen Räumlichkeiten in Fürstenberg – in der Fritz-Reuter-Straße bei der ehemaligen Schlosserei Rönnpagel – wieder in Gang zu setzen, scheiterten. Es fehlte wohl an Maschinen und den erforderlichen Zutaten. Die Familie Schlenkrich zog dann bald weg von Fürstenberg – zurück in ihre angestammte Heimat in der Oberlausitz.
Das Fabrikgebäude der ehemaligen Schokoladen- und Keksfabrik wurde von der Roten Armee zu Büros umgebaut. Nach dem Abzug der Russen 1993 standen sämtliche Räume leer und das gesamte Areal bot einen bejammernswerten Anblick.
Nach der Wende kam es zur Rückübertragung des Betriebsgeländes an die Erben der ehemaligen Besitzer, die die von den Russen vorgenommenen Veränderungen im Fabrikgebäude teilweise wieder zurückbauten. Der Wohntrakt im Westflügel wurde außen wie innen restauriert und neu vermietet. Dieser wieder hergerichtete Westflügel mit seinem neuen Dach, weißem Außenputz und neuen Fenstern und Türen bildet seither einen starken Kontrast zu dem rückwärtigen und Ostflügel-Gebäudeteil der ehemaligen Fabrik. Der orangefarbene Außenputz des großen Restgebäudes bröckelt, die Fensterscheiben der Produktionsräume sind größtenteils eingeschlagen. Kurzum: der überwiegende Teil der ehemaligen Produktionsstätte verwahrlost zusehends – ohne Hoffnung auf eine neue Zweckbestimmung.
Wären heute noch die ursprünglichen Produktionsanlagen der einstigen Schokoladen- und Keksfabrik vorhanden, so taugte das äußerlich zwar nicht sehr ansehnliche Fabrikgebäude wenigstens noch als Maschinen-Denkmal der Gründerzeitepoche. Gemessen am heutigen technischen vollautomatisierten Standard von Industriemaschinen ist ohnehin kaum mehr vorstellbar, unter welchen schweren Bedingungen damals in der Industrie gearbeitet wurde.
Ich erinnere mich noch genau an das laute Dröhnen der Maschinen, das Zischen der Dampfkessel, die mein Vater als Schlosser zu warten, zu reparieren und instand zu halten hatte. Schon als Kind faszinierte mich diese technische Welt. Wenn Reparatur- und Wartungsarbeiten außerhalb der üblichen Dienstzeit anstanden, ließ mich mein Vater oft zusehen. Dabei erklärte er mir die Funktion der einzelnen Maschinen.
Der größte Teil der Produktionsanlagen in der Fabrik wurde in den Zwanziger Jahren mit einer Dampflokomobile angetrieben, die durch Transmissionswellen mit Riemenscheiben über Treibriemen verbunden waren. Die Stromerzeugung erfolgte durch einen 110-Volt-Dynamo. Für die Stromspeicherung war eine Batteriekammer mit vielen Glasbehältern vorhanden, die oft mit destilliertem Wasser nachgefüllt werden mussten.
In den warmen Sommermonaten wurde keine Schokolade hergestellt. Diese Zeit wurde zur Reparatur der Kessel der Dampflok genutzt. Es war eine aufwändige und sicher auch nicht ungefährliche Arbeit. Der Kessel wurde auseinandergebaut und die Rauchrohre gewechselt. Ein Kesselprüfer prüfte dann die Kessel vor dem Zusammenbau.
Etwa 1935 wurde die Lokomobile durch einen Leuchtgasmotor aus Zuffenhausen ersetzt, der nun die Maschinen antrieb. Es war eine Einzylindermaschine mit liegendem Zylinder und großem Schwungrad –- ein Langsamläufer. Als sich herausstellte, dass er zu leistungsschwach war, wurde später ein größerer installiert. Die Elektroanlage wurde auf 220 Volt umgestellt. An allen diesen Umbauarbeiten war mein Vater maßgeblich beteiligt.
Wie in den Zwanziger und Dreißiger Jahren aus Kakaobohnen Schokolade wurde …
Die rohen Kakaobohnen kamen in 50 kg schweren Jutesäcken aus Hamburg in die Fabrik. Der Transport erfolgte durch Lastautos, die verplombt waren und unter Aufsicht eines Zollbeamten entladen wurden. Für die Lieferung musste Zoll gezahlt werden.
Die Säcke wurden auf dem Fabrikspeicher eingelagert. Dort befand sich auch die Rösterei.
Die Bohnen kamen in die Röstmaschine, wurden dort gebrochen, die Schalen von Bohnen getrennt und geröstet. Danach füllte man sie in die Kakaomühle zum Mahlen. Es entstand ein dunkelbrauner bitterer Brei.
Der Kakaobrei durchlief mehrere Walz- und Rührwerke. Dort wurde er weiter zerkleinert und entölt. Dieses Fett war abgekühlte Kakaobutter und wurde später der Schokoladenmasse wieder zugesetzt. In weiteren Walzen und Mischwerken wurde aus der Kakaomasse durch Zusatz von Zucker, Milchpulver und anderen Zusätzen nach Rezepturen der Schokoladiers – der Schokoladenmeister – die Schokomasse gemischt (je nachdem, ob es Vollmilch-, Halbbitter- oder Mokkaschokolade werden sollte). Auf der späteren Verpackung der Schokoladetafeln war der Kakao-Prozentanteil angegeben.
Damit war aber die Schokoladenmasse noch nicht fein genug zermahlen, deshalb kam sie nochmals in ein Rührwerk. Dort wurde sie stundenlang gerührt, bis die Masse ganz fein zerkleinert – „zerschlagen“ wurde das genannt – war.
Bei allen diesen Arbeitsgängen musste die Schokoladenmasse auf eine bestimmte Temperatur gehalten werden. Die Maschinen wurden deshalb mit Gas beheizt. Aus dem Rührwerk wurde dann die Masse in Blechbehälter, sogenannte Kapseln, abgefüllt und in einem gasbeheizten Wärmeraum auf Temperatur gehalten.
Danach kam die Schokolade in einen Behälter der Einformmaschine und von dort genau dosiert in Weißblechformen. Auf einem Rütteltisch, der die Formen leicht hin- und herbewegte, verteilte sich die Masse gleichmäßig in den Formen.
Anschließend verbrachte man die Formen in den Kühlraum zum Festwerden der Schokoladenmasse. Zuguterletzt wurden die Formen auf ein Klapperband gelegt, das durch Rütteln die fertigen Schokoladetafeln aus den Formen herauslöste.
Auf einem Transportband gelangten die Tafeln schließlich zum Verpackungsautomaten, der die Schokolade in Metallfolie und in einen bedruckten Papierumschlag einwickelte. Die fertigen Tafeln kamen wieder in einen Kühlraum bis zur endgültigen Verpackung in Kartons für den Versand.
Die Herstellung von Pfefferkuchen, Pfeffernüssen und Keksen bis 1939
Das Backen der Pfefferkuchen und Pfeffernüsse erfolgte als Saisonarbeit vom Herbst bis Ende Dezember eines jeden Jahres.
Der Pfefferkuchenteig wurde bereits im Sommer vorgemischt und im Teigkeller eingelagert. Dazu breitete man den Teig auf einem Bohlenbelag aus und stampfte ihn fest, bis eine circa 30 cm hohe Schicht die Lagerfläche bedeckte. Dieser Teig war aber so noch nicht genießbar. Ich habe ihn mal als Kind probiert: er schmeckte scheußlich!
Im Herbst dann stach man den Teig mit Spaten ab, füllte ihn in Blechgefäße und transportierte ihn zur Weiterverarbeitung in die Bäckereiabteilung. Dort wurde der Teig mit Maschinen geknetet und gerührt, damit er wieder weich wurde. Die erforderlichen Zutaten wie Gewürze usw. wurden dabei zugemischt. Danach walzten Maschinen den Teig auf einem langen Band aus. Auf einem Transportband durchlief der Teig eine Ausstechmaschine mit den gewünschten Formen wie Herzen, Brezeln etc.. Die rohen Teigteile wurden auf Backbleche gelegt und in Regale gestellt, bis sie in den Backofen kamen.
Der Backofen war ein sogenannter Wanderrostofen. Auf einem Kettenrost, ähnlich einem Transportband, durchliefen die Bleche mit den Backwaren einen langen gemauerten Ofen. Die Durchlaufzeit konnte je nach Backware und Temperatur des Ofens verstellt werden.
Je nach erforderlicher Backzeit durchliefen die Bleche entweder langsamer oder schneller den Ofen. Beheizt wurde der Ofen vom Heizkeller aus mit Kohlen.
Nach dem Backvorgang transportierte ein Band die Backbleche auf die Ablagefläche an der Ausgangsseite des Ofens. Von hier mussten die heißen Bleche abgenommen werden. Zum Abkühlen lagerten sie in fahrbaren Regalen.
Sollten die Pfefferkuchen mit Schokolade oder Zucker überzogen werden, fuhr man sie zur Überziehmaschine, wo sie auf einem Band die Maschine durchliefen. Danach kamen sie in einen Kühlraum.
Die Pfefferkuchen und Pfeffernüsse wurden in Papiersäcke, alle anderen Backwaren in Kartons verpackt.
Oft erfolgte der Versand der produzierten Back- und Schokoladenwaren noch am gleichen Abend ihrer Herstellung. Die in Kisten und Kartons verpackte Ware wurde zum Güterbahnhof gefahren und dort in Eisenbahn-Waggons verladen. Teilweise mussten diese aber auch per Lastautos direkt zu den einzelnen Verkaufsstellen gebracht werden. Sehr viele Ware ging damals nach Berlin.
